Das Matterhorn ist schön
«Das
Ziel ist das Matterhorn. Angereist wird auf dem Rücken der Sprache. Die
Identität der Reiseteilnehmer lässt sich so leicht nicht festmachen. Es ist ein
undisziplinierter Haufen. Sie weichen vom Weg ab, ändern ihre Motive. Sie
verwechseln sich. Sie verwechseln ihre Handys. Sie sind alle schön! Alles ist
schön! Sie haben Stil! Alles hat Stil! Wichtig ist nicht, was sie sagen.
Wichtig ist, dass sie es sagen.» Das schreibt Beat Sterchi über sein Stück «Das
Matterhorn ist schön.» Darin begegnet man einer Gruppe von nicht näher
bestimmten, vermuteten Städtern, die sich für eine Reise nach Zermatt und zum
Matterhorn verabredet haben.
-
Wir gehen ja nach Zermatt.
-
Ihr solltet öfter nach Zermatt fahren.
-
Zermatt tut gut.
-
Meine Schlüssel!
-
Zermatt ist schön.
-
Hat jemand meine Schlüssel gesehen?
Es
gibt also keinen dramatischen Grund, zum Matterhorn zu fahren. Diese Menschen
tun es einfach, weil es sich gehört, regelmässig in die Berge zu fahren. Die
Sehnsucht ruft, nach Natur, nach dem Land, nach dem Berg.
-
Aah, die Luft. Aah, der Schnee.
-
In Zermatt werden wir braun und schön und gesund und glücklich und froh.
Und
unterdessen rauscht der Small Talk weiter, mal in schnellen, absurden Loops,
mal als strenge Minimal Music, mal als vielstimmiger Kanon. Diese Sätze bilden
mehr eine Partitur als ein Stück, und sie erzeugen mehr einen Gesang als einen
Sinn. Es ist eine süchtige Sprachmusik, zwischen deren Schichtungen und
Verwerfungen die Condition humaine hörbar wird – die ständige Flucht des
Menschen vor sich selbst und seine ständige Suche nach etwas anderem als sich
selbst. Gut, gibt es noch sichere Gewissheiten: Das Matterhorn nämlich, das ist
schön.
Alpabzug
Der «Alpabzug» («Désalpe»), aus dem Französischen von Beat
Sterchi in die Mundart übertragen, ist das Gegenstück zu «Das Matterhorn ist
schön». Denn hier kommen nun Bergler zu Wort, die es talwärts zieht. Die es
nicht mehr aushalten in den Bergen vor lauter Sonne, Chäs und Châlets. Wie bei
Sterchi gibt es auch hier keine Dialoge und keinen dramatischen Antrieb, nur
diese lange, sprachmächtige Suada, in der die Bergler ihre nasswarmen Matten
beklagen, auf denen schon lange kein Schnee mehr fällt.
- Dr Ratrac.
- Mir vermisse dr Ratrac.
Die Lust der Unterländer auf eine heile Bergwelt, die aus
«Das Matterhorn ist schön» dringt, trifft hier also auf die Existenzängste
derer, die in diesen Bergen tatsächlich leben. Und in der Kombination dieser
beiden Stücke entsteht so ein Abend über den Zustand unseres Bergmythos, eine
Begegnung von Stadt und Land in, nun ja, dünner Luft.
Die Autoren
Beat Sterchi, 1949 in Bern geboren, ist einer der
originellsten und bekanntesten Gegenwartsautoren der Schweiz. Sterchi sei eines
der schlagendsten Beispiele dafür, schrieb Peter von Matt, wie die «Distanz zur
Heimat wie ein optisches Instrument wirkt, das den Raum der Herkunft schärfer
vor Augen rückt». Die Texte und Themen des Berners sind zu einem Teil
unbestreitbar «schweizerisch», doch holte sich Sterchi seinen präzisen Blick
auf das Landestypische wohl tatsächlich in jenen langen Jahren zwischen 1970
und 1994, als er in Kanada, Honduras und Spanien lebte. Der gelernte Metzger
studierte Anglistik in Vancouver und veröffentlichte schliesslich 1983 seinen
ersten Roman, «Blösch», für den er mehrere Preise erhielt. Später schrieb Sterchi
vor allem fürs Theater, und zwar in Deutsch wie auch in Schweizerdeutsch. Zu
seinen bekanntesten und beliebtesten Stücken zählen «Äm Gessler sy Huet», «Nach
Addis Abeba», «Annebäbi im Säli» und natürlich «Das Matterhorn ist schön».
Gerade in letzterem Stück, das nicht in Dialogen aufgebaut ist, sondern als
lange Kette von vielfach wiederholten und veränderten Einzelsätzen, zeigt sich
die Nähe von Beat Sterchi zum Spoken Word. Er ist Mitglied der
Wortperformance-Gruppe von Bern ist überall, die mehrere CDs veröffentlicht hat
und regelmässig durch die Schweiz tourt.
Antoine Jaccoud, geboren 1957 in Lausanne, ist Politologe
und Autor von Theaterstücken und Drehbüchern. Er schrieb Filmskripts für Denis
Rabaglia («Azzuro»), für Jean-Steéphane Bron («La bonne conduite»), Greg
Zglinski («Tout un hiver sans feu») und für die Berlinale-Preisträgerin Ursula
Meier («Home», «Sister»). Jaccoud war von 1996 bis 2005 zudem Autor und
Dramaturg des Théâtre en Flammes, einer freien Westschweizer Gruppe. Mit Beat
Sterchi tritt Antoine Jaccoud in der Spoken-Word-Formation Bern ist überall
auf, die auch mehrere CDs veröffentlicht hat. Sterchi hat sein Stück «Désalpe»
ins berndeutsche «Alpabzug» übertragen.